Eine Familiengeschichte – Kodak Retina Ib und IIIC
Von Franz Keck
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass meine beiden Großväter unabhängig voneinander jeweils eine Kodak Retina ihr Eigentum nannten. So fanden mit einer Retina Ib und einer Retina IIIC zwei faszinierende (Mess)sucherkameras ihren Weg zu mir.
Heute verbindet man mit dem Begriff Messsucherkamera vor allem einen Begriff: Leica. Dabei wird jedoch gerne vergessen, dass Sucher- und Messucherkameras lange Zeit die reguläre Bauform von 35mm-Kameras waren. Mit einer Messucherkamera konnte man so schnell und intuitiv wie mit keiner anderen Kamera fotografieren. Weniger gut betuchte Fotografen wichen auf die günstigeren Sucherkameras aus, bei denen die Entfernung zum Fokussieren geschätzt werden musste. Erst als Spiegelreflexkameras standardmäßig mit Rückschwingspiegel und horizontalen Suchern mit seitenrichtigem, aufrechtem Bild ausgestattet waren konnten sie der Messsucherkamera das Wasser reichen und sie nach und nach verdrängen.
Kodak in Stuttgart
Die Eastman Kodak Company aus Rochester, New York, hatte 1931 die Dr.-August-Nagel-Fabrik für Feinmechanik in Stuttgart gekauft, da man in Deutschland einen Produktionsstandort suchte. August Nagel blieb hierbei Generaldirektor und hatte bezüglich Entwicklung und Fertigung freie Hand. So hatte er eine solide Finanzierung für neue Projekte. Mit seinem Bruder Paul entwickelte er nun eine hochwertige und doch erschwingliche Kleinbildkamera als Konkurrenzprodukt zur Leica:
Die Retina.
Die erste Retina (Nr. 117/118) wurde im Juli 1934 zum sensationell niedrigen Preis von 75 Mark vorgestellt und nutzte die damals neue, aber noch heute gebräuchliche 35mm-Film-Einwegpatrone. So wurde Kleinbildfotografie einem viel größeren Kundenkreis möglich.Was die Ur-Retina alles abkonnte durfte sie 1953 im Himalaya beweisen: Das Gipfelfoto von Tenzig Norgay auf dem Mount Everest wurde von Edmund Hillary mit seiner Retina Nr.118 aufgenommen.
Diese Kamera hatte noch keinen integrierten Entfernungsmesser und ein Klapptubus-Objektiv mit Balgen, ähnlich einer Laufbodenkamera, mit 50mm Brennweite und einer maximalen Blende von f/3,5. Anders als die konkurrierenden Schraub-Leicas hatten die klappbaren Retinas alle fest verbaute Objektive (manche hatten gewissermaßen Wechselobjektive, dazu später mehr). Ab 1958 wurden nicht-faltbare Retinas und ab 1957 die Retina Reflex-SLRs mit meist wechselbaren Objektiven eingeführt. In diesem Beitrag soll es jedoch nur um die klappbaren Retinas, die zwischen 1934 und 1960 produziert wurden, gehen.
Die Retina wurde 1936 durch die Retina I abgelöst, außerdem wurde die Retina II-Serie eingeführt, die einen gekoppelten Entfernungsmesser hatte. So wurden die Serien Retina I und Retina II in den Ausführungen Retina I (Nr. 119/126/141/143/148/149/167/013, 1936–1950), Retina Ia (Typ 015, 1951–1954), Retina Ib (Typ 018, 1954–1957) und Retina IB (Typ 019, 1957–1960) sowie Retina II (Typ 142, 1936–1950), Retina IIa (Nr. 150, 1939 / Typ 016, 1951–1954), Retina IIc (Typ 020, 1954–1957) und Retina IIC (Typ 029, 1957–1958) produziert. Im Laufe der Zeit kamen stetig technische Neuerungen wie ein Filmtransporthebel statt -rad hinzu und der Balgen am Objektiv verschwand unter schützendem Metall.

Die Retina 1b
Womit wir zur Retina Ib meines Großvaters mütterlicherseits kommen. Die Retina Ib (Typ 018) wurde von 1954 bis 1957 produziert und wechselte damals für 258 DM den Eigentümer. Auffällige Neuerung der Ib war der seitlich gerundete und nicht mehr kantige Körper, womit sie besser in der Hand liegt und optisch mehr hermacht. Passenderweise wurde auch die Abdeckklappe für das Objektiv abgerundet. Zudem wurde der Sucher vergrößert und mit einem Leuchtrahmen versehen.
Heute eher verwunderlich ist der ab dem Modell Ib rechts am Gehäuseboden angebrachte Spannhebel. Am ausgeklappten Objektiv ist von außen kein Balgen mehr erkennbar, alles liegt gut geschützt unter Metall verborgen. Als Objektiv kommt ein Schneider-Kreuznach Retina-Xenar mit 50mm Brennweite und einem Blendenbereich von f/2,8-f/22 zum Einsatz. Das Retina-Xenar hat einen Synchro-Compur-Verschluss, ein flüsterleiser Zentralverschluss mit Verschlusszeiten zwischen 1 und 1/500 Sekunde sowie Bulb. Auch ein Vorlaufwerk ist vorhanden, es wird über die V-Position des grünen Hebels links unten am Objektiv angewählt und gespannt. Auf der Gehäuseoberseite sitzt ein Blitzschuh, eine PC-Buchse sitzt links unten am Verschluss.

Wie die Zugehörigkeit zur Retina-I-Serie verrät, hat die Ib weder Belichtungsmessung noch einen Messsucher, fokussiert wurde manuell auf geschätzte Distanzen zwischen 0,9m und unendlich. Im geschlossenen Zustand misst die Ib 127 x 83 x 45mm, im aufnahmebereiten Zustand verdoppelt sich die Tiefe auf 90mm – eine sehr kompakte Kamera. Mit 580g ist sie zwar nicht besonders schwer, fühlt sich jedoch sehr dicht an – gerechtfertigterweise, besteht sie doch fast nur aus Glas und Metall, davon der Großteil massive Frästeile! Das Objektiv wird durch Drücken auf zwei an Objektivober- und -unterseite angebrachte Knöpfe eingefahren, was jedoch nur in der Unendlichstellung geschehen kann. Linksseitig befindet sich ein Standard-Stativgewinde, an welchem auch eine zweiteilige, braune, Metallbeschlagene und mit rotem Samt ausgekleidete Bereitschaftstasche angebracht wird. Diese hat an der selben Stelle aber auch noch ein Stativgewinde. Am linksseitig sitzenden Rückspulrad kann, damit der Fotograf es selbst nicht vergisst, eingestellt werden, ob man mit Infrarot-, Color-Tageslicht- oder Color-Kunstlichtfilm fotografiert. Rechts auf dem Gehäuse ist der Auslöser mit Gewinde für einen Drahtauslöser sowie der manuell zurückzusetzende Framecounter zu finden. An der Gehäuseunterseite sitzt neben dem Spannhebel noch der Knopf für den Start des Rückspulvorgangs sowie die Entriegelung für die als Klappdeckel ausgeführte Gehäuserückseite.

Die Retina IIIC
Auf der Photokina 1954 wurde die Welt nicht nur mit der Leica M3 beglückt, auch die Retina- Familie bekam Nachwuchs in Form der Retina IIIC (Typ 021, 1954–1957), die mit einem integrierten Selen-Belichtungsmesser versehen war. Mit der Retina IIIC (Typ 028, 1957–1960) erschien 1957 die letzte und ausgereifteste Klapp-Retina, die Retina meines Großvaters väterlicherseits.

Die Retina IIIC kostete 447 DM und ist ein enger Verwandter der Ib, die Bedienelemente sitzen an gleicher Stelle und optisch hat sich auch wenig getan. Allerdings hat das Schneider-Kreuznach Retina-Xenar C in diesem Fall eine Maximalblende von f/2 und austauschbare Frontelemente, sodass das Objektiv auch auf 35mm und 80mm umgerüstet werden kann. Diese Vorsatzobjektive sind jedoch alles andere als benutzerfreundlich, lichtschwach und verhindern das Einklappen des Objektivs. Für diese Brennweiten gibt es ebenfalls Sucherrahmen. So musste der Sucher sehr groß werden, was ihn zum wohl besten Retina-Sucher macht. Zudem beträgt die Minimalfokusdistanz nun nur noch 0,8m. Mit 89mm baut die IIIC höher und wiegt mit 652g mehr als die Ib, was Messsucher und Belichtungsmesser geschuldet ist.
Die relevantesten Änderungen sind der Messsucher und der nicht gekoppelte Selen- Belichtungsmesser auf der rechten Seite. An diesem kann die Lichtempfindlichkeit des Films in DIN oder ASA eingestellt werden. Je nach Lichteinfall bewegt sich eine Nadel, welche dann vom Fotografen in Übereinstimmung mit einem Zeiger gebracht werden muss. Dies ergibt einen Lichtwert, der dann am Objektiv eingestellt wird.

Das Lichtwertprinzip
Die Belichtung wird sowohl bei der Retina Ib als auch der IIIC durch Auswahl eines Lichtwerts eingestellt. Dies geschieht über den kleinen Hebel an der Objektivunterseite und den korrespondierenden roten Zahlen zwischen 2 und 18. Den nötigen Lichtwert erfährt man bei der IIIC über den integrierten Belichtungsmmesser, bei der Ib von einem externen Belichtungsmesser oder durch Schätzung. Die Bedienungsanleitung der Ib beinhaltet hierzu eine Hilfstabelle, der z.B. zu entnehmen ist, dass für ein helles Motiv bei strahlendem Sonnenschein und ASA 80 ein Lichtwert von 15 vonnöten ist, was z.B. f/16 und 1/125 Sek Belichtungszeit entspricht – nahe dran an Sunny 16!
Dieses Prinzip miteinander gekoppelter Blendenwerte und Verschlusszeiten ist eine frühe Art der Vereinfachung der Belichtung, quasi ein Urahn der Belichtungsautomatik. Bei diesem System kann der Fotograf manuell belichten, ohne zwangsläufig die Zusammenhänge von Blende und Verschlusszeit verstanden haben zu müssen. Trotzdem kann der versierte Fotograf, der, um beim vorherigen Beispiel zu bleiben, beispielsweise lieber offenblendiger arbeiten würde, dies tun, indem er den gekoppelten Blenden- und Verschlusszeitring zur Kombination f/8 – 1/500 sec weiterdreht. Ein cleveres, aber zuerst etwas ungewohntes System.

Schnappschuss-Einstellung
Als Hilfe für flüchtige Momente oder, im Falle der Retina Ib ganz generell, werden in der Bedienungsanleitung noch zwei Schnappschuss-Einstellungen aufgeführt. Für nahe Motive solle man bei Blende 8 auf 3m fokussieren, um von 2,10m bis 5,70m alles im Schärfebereich zu haben.
Für weiter entfernte Motive solle man, auch bei Blende 8, auf 6m fokussieren, um ab 3,40m alles scharf zu haben. Auf der Distanzskala am Objektiv sind diese beiden Positionen mit einem kleinen Kringel über der 3m- und 6m-Stellung markiert.
Oben: Drei Bilder mit der Retina aus dem tiefsten Winter…
Die Retina-Experience
Die schwäbisch-amerikanischen Sucher- und Messsucherkameras waren sehr hochwertig gefertigte Kameras. Fotografiert man mit einer Retina, hat man den Eindruck, ein Zwischending aus Kampfpanzer und Uhrwerk mit dem Design eines Sportwagens in Händen zu halten. Dank des versenkbaren und durch die metallene Gehäusetür bestens geschützten Objektiv ist die Retina sehr „taschentauglich“ und mit dem Lichtwertsystem konnten auch Anfänger schnell mit ihr fotografieren. Dies alles bei einem Preis weit unterhalb des Leica-Niveaus (Die M3 kostete bei Einführung 1954 das doppelte der Retina IIIc) machte die Retina-Serie zur perfekten Kamera fürjedermann.
Langfristig war natürlich der Messsucherkamera mit Wechselobjektiv und konventioneller Einstellung von Blende und Verschlusszeit mehr Erfolg beschieden. So gibt es heute noch Leicas, aber keine Retinas mehr.
Hallo Wieland,
Vielen Dank für deine Perspektive als „originaler“ Retinanutzer!
Sind tolle Kameras…
Die Bilder sind auf Fuji C200 entstanden, meist bei Blende 8. Mit der Rollei kann ich keinen Vergleich ziehen, die hatte ich noch nie in der Hand…
Gruß,
Franz
Hallo Franz,
vielen Dank für Deinen Bericht, der bei mir viele Erinnerungen geweckt hat!
1965 bekam ich, als damals 12 jähriger, eine gebrauchte Retina I b geschenkt, es war meine erste Kamera. Ein Traum! Hervorragend verarbeitet und mit einer guten Optik ausgestattet, war sie dem damals von mir verwandten Agfa Color CT 18 Diafilm weit überlegen. Ich habe mit ihr fotografieren gelernt, und sie später als Zweitkamera für Schwarzweiss Aufnahmen genutzt. Der Zentralverschluss erlaubte Blitz-Aufnahmen mit jeder Verschlussgeschwindigkeit, so konnten auch draußen bei hellem Licht Schatten aufgehellt werden. Mit Schlitzverschlusskameras – wie der Leica – ging das nicht.
Irgendwann habe bin ich zur Spiegelreflex-Fotografie mit der Zeiss Icarex übergegangen, die mehr Möglichkeiten bot. Hinsichtlich der Bildqualität konnte die Retina jederzeit mithalten. Später habe ich (leider) die geliebte Retina verschenkt. Sie war eine sehr gute Kamera, mit der für mich vor 60 Jahren die Fotografie begann. Berichte doch mal über die Bilder, die du mit ihr gemacht hast. Die Qualität müßte vergleichbar der Rollei 35 sein.
Herzliche Grüße
Wieland
Hallo Holger,
Ja die Retinas sind tolle Kameras mit viel Charme, damit zu fotografieren macht viel Spaß! Die Haptik dieser extrem massiv gebauten Kameras ist einfach auf einem kaum noch erreichten Level.
Viele Grüße,
Franz
Hallo Franz,
ein sehr schöner Bericht. Danke. Die Retinas waren nie in meinem Focus, sind aber auch sehr hochwertige Kameras. Mein Vater begann mit Voigtländer und so war meine erste richtige Kamera auch eine Braunschweigerin. Mein Vater hat in den 50er und 60ern den Fotomarkt intensiv verfolgt. Daher hat er sich in den 90ern auf einer Fotobörse doch noch einen Jugendtraum erfüllt und ein Retina lllc gekauft. Auch ich habe mir in reiferen Jahren viele Kamera-Jugentträume erfüllt. Das meiste kam aus Braunschweig, Dresden und Wetzlar.
Viele Grüße Holger