Liebe Grüße aus Bolton: Die Witness mit dem seltenen f/1.5 Dallmeyer 2in (50mm) Septac-Objektiv
Es gab einst eine britische Nachkriegs-Kamera, die angeblich den damals gebräuchlichen Leica IIIc und IIIf oder der Zeiss Ikon Contax überlegen war. Das Design war schnittiger, moderner, dabei bot sie solide Verarbeitung und ein einzigartiges hybrides (kombiniertes) Schraub/Bajonett System für die Objektive.
Die Ilford Witness hatte scheinbar alle Vorteile auf ihrer Seite. Nach dem Krieg war es fast unmöglich, an Leica oder Contax-Kameras heranzukommen. Man brauchte eine spezielle Import-Lizenz, die nur gewährt wurde, wenn man professionelle Bedürfnisse hatte. Mein Freund Don Morley beschrieb einst die Schwierigkeiten, die er zu der Zeit hatte, als er eine Leica IIIc bestellen wollte, in einem Artikel auf Macfilos.
Eine wahre Augenweide: Mit Original- Bereitschaftstasche, die fast noch seltener ist als die Kamera und dem versenkbaren 5cm Daron f/2.9, das von Robert Sternberg entworfen wurde. Die Tasche war der einzige Teil der Ausrüstung, auf der Name „Ilford“ auftauchte.
Unterbrochenes Schraub-Gewinde
Die Witness war eine präzise gefertigte Kamera in einem ähnlichen Preis-Segment wie Leica und trug einen international anerkannten Markennamen. Zu der Zeit war höchstens Kodak noch bekannter als Ilford.
Der einzigartige Objektiv-Anschluss basiert auf einem Standard L39 Gewinde, aber schliesst eine raffinierte Bajonett-Modifikation ein, durch die das Gewinde unterbrochen wird. Sowohl an der Kamera als auch am Objektiv wird das Gewinde von drei glatten Nuten durchbrochen, die im 90-Grad-Winkel dazu angeordnet sind. Auf diese Weise kann das Objektiv direkt in die Fassung geschoben werden, ein schneller „Dreh“ verbindet dann die „unterbrochenen“ Gewinde. Das Objektiv sitzt sofort fest. Diese System erlaubt, dass auch ein Standard L39 Schraub-Objektiv auf konventionelle Weise angeschraubt werden kann.
Die Witness mit dem Daron. Das f/1.5 Dallmeyer Septac rechts zeigt das unterbrochene Gewinde.
Eine Laune des Schicksals wollte es so, dass die Witness von einem früheren Leica-Mitarbeiter entworfen wurde. Er war Jude, und lebte nur deshalb in Großbritannien, weil kein anderer als Ernst Leitz II selbst dafür gesorgt hatte, dass er aus Nazi-Deutschland auswandern konnte. Wenn alles besser gelaufen wäre, hätte Ilford die Witness zu einem großen Erfolg machen können. Bedauerlicherweise scheiterte sie nicht an Problemen mit der Qualität oder Zuverlässigkeit, sondern hauptsächlich am miesen Markteting.
Hier mit zweien der drei Objektive. Das Daron, ausgezogen und „ready for action“, verdankt möglicherweise konstruktiv dem originalen versenkbaren Leitz Elmar f/3.5 eine Menge.
Verfolgung
Die Geschichte beginnt 1933 mit dem 18jährigen Robert Sternberg, der das Glück hat, von Ernst Leitz als Lehrling in der Optischen Werkstatt eingestellt zu werden. Da ihm als Jude eine Universitätsausbildung verwehrt wurde, erwies sich diese Position als große Chance für den jungen Mann. Ab 1936 sorgte Ernst Leitz II aktiv dafür, dass jüdische Angestellte und in Wetzlar ansässige Juden auswandern konnten. Er kam nur deswegen damit durch, weil seine Firma ein wichtiger Bestandteil der deutschen Rüstungsindustrie war. Dieser Teil der Leitz-Geschichte ist inzwischen gut dokumentiert, insbesondere durch meinen Freund und Mit-Leica-Enthusiasten Rabbi Frank Dabba Smith.
Im Gegensatz zu den damals gebräuchlichen Leica-Kameras hat die Witness einen Bodendeckel, der mit der Rückwand verbunden ist und so den Filmwechsel erleichtert.
1936 bot Leitz dem dann 22jährigen Sternberg die Möglichkeit, der Verfolgung zu entgehen. Er bekam eine Empfehlung für die Ensign Camera Company in Walthamstow in London. Dank der Recherchen von Frank Dabba Smith weiß man nun mehr über Sternbergs Werdegang bei Leitz, sogar unterschrieben von Dr. Leitz selbst.
Schon 1908 war Ensign der größte Kameraproduzent in Großbritannien. Für den jungen Sternberg erwies sich das als die grosse Chance, sowohl als Karrieresprung als auch, wie sich später erwies, seine persönliche Sicherheit betreffend.
Ein genauerer Blick auf die Witness mit abgenommener Rückwand. Der Drehknopf auf der Unterseite erlaubt die Justierung der Verzögerung zwischen Auslösung des Verschlusses und des Blitzes. Man kann zwischen 0 und 30 Millisekunden einstellen.
Das Design-Konzept
1936 in England angekommen, machte Sternberg die Bekanntschaft eines weiteren deutschen Flüchtlings. Werner Julius Rothschild war ein früherer Zeiss-Mitarbeiter. Gegen Ende des Krieges entwickelten die beiden ein Design-Konzept für eine neue Kamera, das die besten Eigenschaften der Leitz und Contax Messsucher-Modelle kombinieren sollte. 1947 stellte Rothschild deren Entwurf bei Ilford vor und man wurde sich einig, die Produktion zu starten.
Die Objektiv-Fassung ganz nah. Der unterbrochene Gewindegang kann auch am Objektiv deutlich gesehen werden. Er bietet die Annehmlichkeit eines Bajonett-Verschlusses kombiniert mit der Möglichkeit, herkömmliche Schraubgewinde-Objektive aufzunehmen. Man achte auf die korrespondierenden Nuten in der Kamerafassung.
Rothschild selber war bereits ein erfolgreicher Geschäftsmann mit der Firma „Northern Scientific Equipment“ in Bolton. Er gründete auch die „Daroth Camera Company“, von der man heute nur wenig weiß. Die ersten Prototypen wurden in dieser Industrie-Stadt in Lancashire gefertigt – interessant für mich, kaum mehr als 5 Meilen entfernt von dem Ort, wo ich aufwuchs. Sternberg entwickelte gleichermassen das originale f/2.9 Daron 5cm Objektiv, vermutlich nach Rothschilds Daroth-Company benannt.
Normalerweise war die Witness mit dem Dallmeyer Super Six 2in f/1.9 Objektiv versehen. Alternativ gab es das nun extrem seltene Dallmeyer Septac 2in f/1.5. Einige frühe Modelle wurden mit einem f/2.9 Daron Objektiv ausgeliefert, das von Rothschilds Firma gefertigt wurde, aber von Sternberg entworfen worden war.
Unglücklicherweise erwies sich Northern Scientific als nicht in der Lage, eine Serienproduktion aufrecht zu erhalten und Verzögerungen setzten ein.
Im Krönungsjahr 1953 war die Kamera endlich allgemein im Handel erhältlich. Sie wurde nun von „Peto Scott Electrical Instruments“ in Weybridge (Surrey) gefertigt, einer Firma, die besser als führender Hersteller von Fernseh-Geräten bekannt war. Leider kam die Kamera ein bisschen zu spät. Der Verkauf war schleppend und der hohe Preis von £121 16s 8d (£121,85 entsprechen etwa £3250 in moderner Währung) half auch nicht gerade. Sie war also ein sehr spezielles Gerät, das nur für Professionelle oder gut betuchte Amateure in Frage kam. Ein wenig wie heutzutage Leica.
Stammbaum
Zweifellos war eines der Hauptprobleme der Witness der Mangel einer Modell-Tradition mit entsprechendem Zubehör und Objektiven. Leica und Zeiss hatten das im Übermaß. Ausserdem wurde der Import zu der Zeit erheblich einfacher, innerhalb weniger Jahre gab es überhaupt keine Einschränkungen mehr in der Hinsicht. Dazu präsentierte Leitz auf der Photokina 1954 die bahnbrechende Leica M3. Selbst wenn die Witness weiter produziert worden wäre, hätte man den Erfolg nicht garantieren können.
Robert Sternberg verließ Wetzlar mit dem Segen von Ernst Leitz II. Neben einem Empfehlungsschreiben für die Ensign Camera Company versah er Sternberg auch mit diesem Arbeitszeugnis.
Gelegenheit
Ilford entschied sich für die Produktion von günstigeren Kameras, also wurde die Fertigung der Witness Ende des Jahres 1953 eingestellt. Restbestände wurden für den Preis von £80 verschleudert. Käufer, die den vollen Preis bezahlt hatten, beschwerten sich und bekamen £40 zurückerstattet.
Robert Sternberg arbeitete zunächst weiter für Rothschild (der irgendwann seinen Zunamen in Ryden änderte) in der Fabrik in Bolton. 1956 wechselte er in eine beratende Postion und begann eine neue Karriere als Akademiker an der Manchester University. Später gab er Vorlesungen an der Physikalischen Fakultät und wurde Experte für Spektrometer. Er starb 1991 im Alter von 77 Jahren.
Vermutlich wurden nur ca. 350 Ilford Witness Kameras gefertigt. Wenig überraschend also, dass sie sehr begehrt und teuer sind. Mein Freund Dunk Sargent erklärt augenzwinkernd, dass die Witness mit den wenigen „Überlebenden“ aus der Gesamtproduktion von 350 seltener ist als eine Stradivari, von der es noch 512 Exemplare gibt.
Erst letzte Woche wurde eine Witness bei einer Auktion in Cambridge für £11 500 verkauft
Oben und unten: Eine weitere guterhaltene Witness, dieses Mal mit einem dritten Objektiv, dem Dallmeyer Super Six, die von dem Londoner Händler Peter Loy verkauft wurde. (Fotos © Peter Loy)
Die Fotografien in diesem Artikel stammen von zwei Witness (und Leica) Enthusiasten, John Dodkins und Dunk Sargent, die dafür John’s Canon 5D DSLR benutzten. Bei Red Dot Cameras kann man eine Originale Witness im Museum des Geschäfts betrachten.
- Originalartikel von Mike Evans erschienen auf Macfilos
- Unser Dank gilt Photomemorabilia.co.uk für Referenzmaterial
- Danke an Rabbi Frank Dabba Smith für wertvolle Hintergrund-Informationen und das Facsimile des Briefes von Dr. Leitz
- Danke an Dunk Sargent und John Dodkins für die exzellenten Produkt-Fotografien, nicht zu vergessen Dunk’s Wissen als Spezialist, das mir Zugute kam
- Übersetzung ins Deutsche von Claus Sassenberg
Hinter all dem stehen immer Menschen. Das macht die Produkte um so spannender.
Und es macht auch in der Fotografie bewusst, dass es um Menschen geht und nicht um die ausgereiftesten Mega-Pixel. Denn nur Menschen können ein Bild wahrnehmen und dafür etwas empfinden. Das wiederum macht ein Foto so besonders, wenn ein Mensch es schafft, durch dieses Bild zu berühren.
Vielleicht müssen wir uns all das mal wieder bei all den technischen Möglichkeiten vor Augen führen. Und sind dann in der Lage, dem Motiv, welches wir aufnehmen, mit den nötigen Respekt zu begegnen,