Eine Reise in die Vergangenheit
Handwerker, die arbeiten wie vor 1200 Jahren, und eine Kamera, die Fototechnik-Geschichte schrieb: Das passte ganz gut zusammen bei einem Besuch auf der Klosterbaustelle Campus Galli im Süden Baden-Württembergs. Wo Haupt- und Ehrenamtliche versuchen, den berühmten St. Galler Klosterplan von etwa 820 nur mit Materialien und Werkzeugen aus der Karolingerzeit umzusetzen, schien auch ein gutes Revier für die Leica 9. Karl der Große trifft auf Leica die Bahnbrechende, könnte man sagen. Ist diese M9 aber auch im Jahr 2020 noch ein guter Kauf – zumal Leica angekündigt hat, keine CCD-Sensoren mehr zu ersetzen?
Von Jörg-Peter Rau (weitere Artikel)
Für die M9 war ich zu spät dran. Als ich, nach jahrelanger, sträflicher Vernachlässigung einer in die Schublade verbannten M6, zu Leica zurückkam, war die M (Typ 240) längst auf dem Markt. Mein (Wieder-) Einstieg vollzog sich mit einer M Monochrom (Typ 246), für die ich eine Menge Canon-Ausrüstung eintauschte. Die M9 galt als bedeutsame Kamera, natürlich, eine Pionierleistung, die erste Vollformat-Messsucherkamera. Aber – sie war überholt. So langsam, so beschränkt bei schlechtem Licht, so unzureichend das Display. Mich zog sie überhaupt nicht an.
Zu den alten Liebhabern gesellen sich neue Verehrer
Nun könnte unser kundiger Blog-Gastgeber, Claus Sassenberg, über die M9 sicher sehr viel mehr und sehr viel Kompetenteres sagen als ich, und ich kann seine Seite über diese Kamera nur empfehlen. Ich glaube, er bereut es manchmal, seine M9 weggegeben zu haben. Auch andere Fotografen, die ich schätze, sind des Lobes voll. Manche schreiben und sprechen immer von diesem speziellen Look der Bilder, die mit dem CCD-Sensor aufgenommen wurden. Zugleich beobachte ich die Gebraucht-Preise und komme zu dem Schluss, dass die alte Dame M9 neben ihren alten Liebhabern auch etliche neue Verehrer gefunden haben muss.
Alles ein bisschen retro – aber gibt es ihn, den „analogen Charakter“?
Also wollte ich es selbst ergründen. Indem ich mich darauf einließ. Die M9 schmeichelt der Hand nicht wie eine M3 oder M10. Sie gibt merkwürdige, geradezu archaische Geräusche von sich, die eher an eine frühe analoge Motor-Kamera erinnern. Wenn man so will, alles ein bisschen retro. Also, ein bisschen noch retro-er als spätere M-Modelle. Und ist es nicht eine tolle Geschichte, dass diese Kamera dann neben der Handhabung ausgerechnet auch noch „so analog wirkende Bilder“ aufzeichnet? Mit mehr „Film-Look“, mehr „glow“, mehr Struktur, kurz: mehr Charakter? (Exkurs: Und was soll er eigentlich sein, dieser „Film-Look“, wenn die Unterschiede zwischen einem modernen Portra 160 und einem Agfacolor aus den 80-ern doch größer sind als die zwischen den Rohdaten aus zwei modernen Vollformat-Kameras?)
All these perfect imperfections…
Irgendwann musste ich an Ed Sheeran denken. In einem seiner Lieder singt er liebevoll über „all your perfect imperfections“, und das mit den Unvollkommenheiten fand ich bald auch in der M9, denn in der Summe formen sie dann schon so etwas wie einen Charakter. Die Unzulänglichkeiten habe ich beschrieben, doch sehr, sehr vieles ist auch einfach gut genug an dieser Kamera. 18 Megapixel sind eben keine wirkliche Einschränkung, wenn man gelernt hat, formatfüllend zu fotografieren. Und für Landschaft, Portraits oder eben mein M9-Projekt braucht man auch keine schnelle Kamera. Die Sucherrahmen sind weniger hell als die elektrisch beleuchteten der Nachfolgemodelle, aber sie reichen bestens aus.
Eine fast schon historische Kamera in einem Geschichts-Projekt
Für meinen Test setzte ich auf Geschichte. Fototechnik-Geschichte in Form der M9 traf auf mittelalterliche Kulturgeschichte auf dem Bauplatz von Campus Galli. Das ist ein sehr interessantes Projekt in Meßkirch, keine 40 Kilometer landeinwärts vom nördlichen Bodenseeufer. Haupt- und Ehrenamtliche bauen dort ein Kloster nach dem berühmten St. Galler Klosterplan wieder auf, der auf der nahen Insel Reichenau im Bodensee als Rückseite einer Handschrift die Jahrhunderte überlebte. Auf dieser einmaligen Zeichnung ist – teils idealisiert, teils erstaunlich lebensnah – ein ganzes Klosterensemble abgebildet, mit allen Nebengebäuden und einer beeindruckenden, rund 70 Meter langen Kirche.
Aus der Zeit gefallen – Jenseits von Quartalszahlen und Konsum
In vielerlei Hinsicht ist Campus Galli vollkommen aus der Zeit gefallen und darin unfassbar unmodern. Dort arbeiten Schreiner, die auf dem Bau sicher ein Mehrfaches verdienen könnten. Freiwillige schuften um Gotteslohn, damit sie Teil dieses Projekts sein können. Und all diese Menschen fügen sich in mittelalterlicher Bescheidenheit ein in einen Plan, dessen Vollendung sie nicht erleben werden. 60 bis 80 Jahre rechne man bis zur Fertigstellung, sagte unser überaus kundiger und engagierter Führer, ein Student der Archäologie aus Tübingen. Bisher haben sie ein paar Werkstätten und eine vorläufige Holzkirche errichtet, die die Zeit bis zum Bau aus Stein überbrücken soll. Nächstes Jahr nehmen sie die große Scheune in Angriff. Alles in allem eine entschiedene Absage an „the latest and the greatest“, und das fand ich auch ganz passend für die M9 im Jahr 2020.
Szenen wie gemacht für die Messsucher-Fotografie
Ich könnte nun sehr viel über dieses wirklich faszinierende Projekt schrieben, aber wer mehr wissen will, schaut sich www.campus-galli.de an oder fährt noch besser selbst hin. Jedenfalls bot auch mein zweiter Besuch dort optimale Motive für die Messsucher-Fotografie: Szenen, Kontexte, Menschen. Die Handwerker haben nichts dagegen, fotografiert zu werden, und vermitteln trotzdem jederzeit, dass sie keine Mittelalter-Darsteller sind, sondern tatsächlich arbeiten. Oft auch hart und in unpraktisch wirkenden Klamotten. Nur die Sicherheitsschuhe sind ein Tribut ans Jetzt.
35er Summarit, 90er Elmarit, M9 – braucht man wirklich mehr?
So, und was sah ich dann zuhause auf dem Bildschirm? Solides Handwerk. Technisch sehr schöne Bilder. Kräftige, gesättigte Farben bei Rücken- und Seitenlicht, eine markante Pastellnote im Gegenlicht. Genügend Schärfe, wobei das sicher eher auf das Konto meiner hochgeschätzten Combo 35er Summarit und 90er Elmarit geht. Ich hatte die beiden Objektive ausgewählt, weil ich wissen wollte, ob die M9 mit den beiden Optiken in gutem Gebrauchtzustand ein schönes und im besten Sinne preis-wertes Leica-Einsteigerpaket wäre. Es ist – und beileibe nicht nur für Einsteiger. Meine Limitierungen stellten jedenfalls nicht Kamera und Objektive dar.
Bei all den ganz normalen Motiven: „Fortschritt“ wird recht relativ
Wenn man vom wahrlich miserablen Rückdisplay (ich schaltete es bald ganz ab, genoss erst das „-D“-Gefühl und musste mich dann doch über einige fehlfokussierte Bilder mit dem 90er ärgern) und dem etwas merkwürdigen Einstellrad absieht, kann man kaum glauben, dass die M9 nun schon elf Jahre alt sein soll. Ich war in fast jeder Hinsicht angenehm überrascht, und ich kann jetzt auch nachvollziehen, wie Claus Sassenberg im Vergleich seiner Bilder aus der Breitach-Klamm zu dem Schluss kommt, die M10 liefere eigentlich auch keine besseren Bilder. Im Gegenzug könnte man dann aber auch sagen: Es gibt keinen Grund, sich heutzutage eine M9 zu kaufen, wenn man für das gleiche Geld oder sogar günstiger eine ähnlich erhaltene M Typ 240 bekommt.
Wenn da nicht die Sache mit der Sensor-Korrosion wäre
Was aber bleibt, ist der Reiz, maximal entfernt vom Mainstream unterwegs zu sein. Den verströmt die M9 auch durch ihren viel diskutierten CCD-Sensor… und genau da liegt auch das Problem. Schnell zeigten die Sensoren ein Korrosions-Problem, das die Kameras über kurz oder lang unbrauchbar machen würde. Für Leica war das peinlich, das Umtauschprogramm kostete erst die Firma und dann, nach Ablauf einer Kulanz-Umtauschfrist, ihre Kunden viel Geld. 1500 Euro wurde zuletzt für einen Sensor-Austausch verlangt.
Austausch unmöglich: Neue CCD-Sensoren hat Leica nicht mehr
Auch das ist jetzt Geschichte. Leica hat Anfang August – sehr transparent und öffentlich – angekündigt, dass keine CCD-Sensoren mehr vorhanden seien und folglich kein Austausch mehr vorgenommen werden könne. Wer also noch eine M9 hat, hat entweder das Glück, dass deren Sensor schon getauscht wurde, oder muss hoffen. In jedem Fall wäre mein Ratschlag: Die womöglich begrenzte Rest-Lebensdauer fürs Fotografieren nutzen und nicht das gute Stück in die Vitrine stellen.
Und doch kann eine gebrauchte M9 noch immer sein guter Kauf sein
Ist der Kauf einer gebrauchten M9 im August 2020 also generell eine schlechte Idee? Mitnichten. Wer die Chance hat, ein Gehäuse aus einer vertrauenswürdigen Quelle zu bekommen, mit nachweislich getauschtem, nicht zu altem Sensor, den Belegen dafür – dem stehen wunderbare Foto-Jahre mit einer tollen Kamera bevor. Wenn der Status einer M9 unklar ist, kann man bei Leica mit der Seriennummer anfragen, ob der Sensor getauscht wurde. Mir hat der Kundendienst binnen Stunden geantwortet, dass mein geliehenes Test-Exemplar schon 2015 einen neuen Sensor bekommen habe. Die hässlichen Flecken im blauen Himmel, den ich zum Test absichtlich mit ganz geschlossener Blende aufgenommen hatte, waren also wohl normaler Dreck auf dem Sensor. Auch nicht schön, aber ein lösbares Problem.
Es kann ein endliches Vergnügen sein – es muss aber nicht
In vielen Motiven zeigte sich der Schmutz auf dem Sensor auch gar nicht. Weil ich die Blende weit offen hatte, oder weil in den neuralgischen Zonen kleinteilige Motivpartien wie Laub oder Gras lagen. Kann sein, dass man also auch mit einer von Korrosion betroffenen M9 noch eine ganze Weile sehr schön fotografieren kann. Kann aber eben auch sein, dass nicht, und dass man ein teures Lotteriespiel gemacht hat. Kann auch sein, dass man ein Exemplar erwischt, das keine Korrosion zeigt (wobei man sich nicht darauf verlassen sollte, dass, wenn zehn Jahre nichts passiert ist, das dann auch weitere zehn Jahre so bleibt).
Selbst mit einer M262 in der Tasche könnte man schwach werden
Mein Fazit: Ich habe die M9 als eine großartige, leicht retromäßige, aber in vielen Bereichen auch hinreichend aktuelle Kamera erlebt. Man kann tolle Bilder mit ihr machen (hängt vom Benutzer ab), und ich komme nicht umhin, diesen Bildern einen besonderen Charakter zuzusprechen. Wenn in „meinem“ Leica Store Konstanz einmal ein schönes Exemplar mit dokumentierter Historie auftaucht und die Preise bis dahin nicht komplett überzogen sind, werde ich vielleicht doch noch schwach. Bis dahin bleibe ich für den angedachten Anwendungsbereich (zumeist Reportagen in Farbe) bei meiner vertrauten M (Typ 262). Die ist auch recht reduziert in ihren Funktionen und bildet ein gutes Pendant zur M Monochrom. Ach so, und sehr schöne Bilder liefert sie auch.
Der Artikel erschien in ähnlicher Form auf „Macfilos“
Hallo Jörg-Peter,
zu den Motiven passt sicher die M9 ganz gut, von S/W und/oder analog einmal abgesehen 🙂
Hier sind meine CCD M Erfahrungen:
Ich habe eine der ersten M9 in 12/2009 geliefert bekommen – und stellte auf den ersten Testbildern einen Sensorfehler fest, es fehlte eine ganze Pixelzeile! So bekam sie gleich den zweiten Sensor. Nach einigen Jahren stellte ich die Probleme fest, die dann als Korrosion bekannt wurden.
Inzwischen hatte ich auch einer der ersten M Monochrom in 2012 erhalten und war sehr angetan von den Ergebnissen.
Bei der M9 wurde der Sensor auf Kulanz ausgewechselt, jetzt also der dritte in dieser Kamera. Im Leica Forum hatte ich im Juli 2014 die Frage gestellt, wer noch diese Sensorprobleme habe.
Es wurde mit über 150.000 Aufrufen und über 2.300 Antworten der Thread mit der höchsten Resonanz. Danach bot Leica den kostenlosen Sensortausch an, aber nur bei bis zu 5 Jahre alten Kameras.
Im letzten Herbst nahm ich die M Monochrom nach längerer Zeit wieder und stellte auch die Korrosion fest. Jetzt sollte der Sensortausch 1.500€ kosten. Nach einigem hin und her habe ich mich für das Upgrade auf die M 246 entschieden und bin bis jetzt sehr zufrieden mit den Ergebnissen!
ABER: ich nehme es Leica sehr übel, dass mir ein fünf Jahre altes Modell (das ich natürlich wusste) angeboten wurde, obwohl einige Wochen später die neue M10M heraus kam!! Hätte ich das gewusst, hätte ich gewartet.
CCD M – nein Danke!
VG Dierk
Schön, wieder einen Artikel von Ihnen zu lesen.
Da ich derzeit neben der analogen M7 die SL nutze, ziehe ich immer wieder den Vergleich zwischen Sneakern und Wanderschuhen. Die Liebe aber gilt der M und alleine schon der Stromverbrauch würde mich bei der M240 oder 262 schwach werden lassen.
Die Lebenszyklen der Kameras sind heute schon erschreckend: Mein Vater hatte nur einen Fotoapparat, den hatte er etwa 40 Jahre im Gebrauch.
Ist so wenig, was man braucht. Nur muss man sich den Blick dafür wieder frei machen.
Herzliche Grüße
Kai Steffens
Hallo Herr Rau,
ein sehr schöner Artikel.
Ich mag die M9, die Diva mit ihren Macken. Gestern ist die Diva mal wieder eingefroren. Akku und Speicherkarte raus. Keine Reaktion, dann nach 30 Minuten hat die Zicke wieder mit mir gesprochen. Sie ist sowas wie ein unsterbliches Wesen. Eine Diva kennt ihre Schwächen, das bedeutet das eine normale Kamera (Canon Mark…, Fuji xpro3, Sony 9II) keine Diva sein kann. Denn eine Diva lebt im Kopf, man liebt sie. Die Diva versucht ihre Stärken zu optimieren und zeigt nur diese. Die Bilder haben etwas was ich nicht beschreiben kann.
M9 = Diva mit der Tendenz zur Zicke
M8 = Diva in abgeschwächter Form
M10 = göttliches Wesen. Es ist ganz was es ist, darum ist es so schön
M10-R = Marketing-Gag von Leica. Uranus hasste die Riesen mit 40 MP und schleuderte sie in die Unterwelt der Keller in Wetzlar und nicht in den Pantheon
Gruß aus Graz
Ingo